Wunderkammer Homunkulus
Wunderkammer „Homunkulus“
Von Renate Hoffmann
Es sei „eine Insel auf der Insel, ein Raum für Ideen und bessere Gedanken“, so beschreibt Konrad Hirsch (Logbuch Nr. 3 der „Seebühne Hiddensee“) die kleinere Insel „Homunkulus Figurensammlung“ auf der größeren Insel Hiddensee, westlich vor der großen Insel Rügen. – Einfallsreichtum und kluges Denken als Versprechen, daran geht man nicht vorbei.
Der schlichte, sachliche Neubau aus Lärchenholz in Vitte birgt eine Wunderwelt. Ein Schritt über die Schwelle und ich bin umgeben vom großen Ensemble aus vielhundert Darstellern. Figuren aller Art, die auf ihren Einsatz warten, oder den Ruhestand genießen, oder aufregende Geschichten erzählen können, wenn sie der Puppenspieler, Autor, Ideengeber, Regisseur Karl Huck zum Erzählen bringt. Umgeben auch von Requisiten, Raritäten, Theaterprospekten, gescheiten Texten, Plakaten. Und eingehüllt in klassische Musik (Chopin spielt ein Nocturne für mich).
„Homunkulus“ ist ein Ort des Staunens. Nirgendwo kann man bedeutenden Akteuren so nahe sein, Doctor Faustus in die Augen sehen; sich vor John Silver von der Schatzinsel fürchten und Mister Scrooge, den Griesgram aus Charles Dickens’ Weihnachtsmärchen ob seiner Grantigkeit verachten. – Das Ensemble vertritt die Elite der Weltliteratur samt den Dichterlingen der Märchenwelt. Unter ihnen sind, neben den Grimms und Hans Christian Andersen, Tolstoi, Kafka und Edgar Allan Poe; Shakespeare fehlt nicht und schon gar nicht Goethe.
Ihre Auftritte nehmen die hochbegabten Künstler im eigenen Haus, dem Maritimen Kammertheater „Seebühne“, Wallweg Nr. 2, nur wenig entfernt von ihrer Heimstatt „Homunkulus“. – Wenn man in den Programmen hin und wieder liest: „Für Kinder ab 6 Jahren und Erwachsene“, so hat das seine Bewandtnis. In der „Seebühne“ kennt die Fantasie keine Grenzen und feiert hier fröhliche Urständ. Jeder Besucher begibt sich in seine Verständniswelt, nickt zustimmend bei Bestätigung des eigenen Erfahrungsschatzes – oder feuert lauthals an.
Der Zauberer Karl Huck transponiert Klassisches in die Moderne, und würzt diese mit klassischem Gedankengut. Verfeinert durch geistvollen Witz, durch Seitensprünge in das Tagesgeschehen und versteckte Nachdenklichkeit, frei nach Goethe: „Lasst Phantasie, mit allen ihren Chören, / Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft, / Doch, merkt Euch wohl! nicht ohne Narrheit hören.“
Mit dem Eintritt ins Lärchenholzhaus schwindet die Realität. Man befindet sich in der wirklichen Unwirklichkeit. Ist eingefangen von wundersamen Szenen aus dem Repertoire der „Seebühne“ und ihren stillen Darstellern, von Bühnenzubehör und Informationen. – Über der Tür schwebt ein Reisekorb mit Besatzung. Sie grüßt die Gäste und lädt ein zum Gang durch das Wunderkabinett der Figuren. Von überallher schauen sie mich an.
Begegnung mit Pinocchio, der wohl soeben dem Buch seines Dichtervaters Carlo Collodi entstiegen ist. Da sitzt der Bursche mit der langen Nase, hinderlicher Fortsatz in mancher Lebenslage. Die neugierigen, etwas verschreckten Augen weit geöffnet vor den Unbilden der Welt. Füchsin und Kater um ihn, listig, verschlagen. Auch die schöne Kolumbine, verführerisch in zartes Lila gekleidet und von Pinocchio angeschwärmt. Und die Ratte. Sie kommentiert das Spiel und beendet es mit einem kräftigen Goethewort, wie nebenan zu lesen ist: „Du bist am Ende – was du bist. Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,“ und so weiter und so weiter, „du bleibst doch immer was du bist. Goethe. Faust. Danke!”
In einem aufgeschlagenen Wandtheaterkästchen, befestigt an Häkchen, zierliche Figürchen vor einem Prospekt mit Natur. Böhmische Marionetten. Aus dem Land der Puppenspieler-Tradition. Man möchte sie in Bewegung setzen, die Ballerina mit der Wohlgestalt, den weltabgewandten Mönch, die trauernde, aber charmante Witwe.
An Ebenezer Scrooge ist kein Vorbeikommen. In seiner von Habgier und Geiz gezeichneten Physiognomie sucht man vergebens nach einem Funken Menschlichkeit. Doch der soll ja noch aufleuchten, wenn die Weihnachtsglocken läuten. Nach Karl Hucks bewährter Gedankenakrobatik bewohnt der Misanthrop eine alte Registrierkasse. Man überlegt, wer darin Mr. Scrooge noch Gesellschaft leisten könnte …
Hinter einem Staketenzaun präsentieren sich die Darsteller aus dem „Märchen von Iwan, dem Dummkopf“, zu dem Lew Tolstoi anregte. Ein Samowar sorgt für Atmosphäre und die Türme von Moskau (oder von sonst wo im Russischen Reiche). Die Suggestion ist stark, mir ist nach einem Schluck Boдka.
Reisekoffer und Tropenhelm, eine handvoll Muscheln, die Weltkugel, auf der man unbeschwert die fünf Erdteile bereisen kann, eine Südseemaske und darüber … riesenhaft und angsteinflößend der Gorilla Kong. Mit Krone. „King Kong.“ Die lebensnahe Figur der Marylin Monroe, der sogar das helle Kleid flattert wie auf dem bekannten Foto, ist ihm Partnerin im Spiel von der Schönen und dem Biest. Verwoben in den Wirbel wilder Ereignisse und mit dem bitteren Beigeschmack verlorener Illusionen. Untertitel zum Stück: „Ein amerikanischer Traum.“ Ich verweile nachdenklich.
„Hast wohl Schiss?“, fragt mich ein Junge. „Ja, ein bisschen.“ Unsere Ängste unterscheiden sich. „Was gefällt dir denn?“ „Na, die Schatzinsel!“ Er führt mich vor einen alten Kontrabass, in, um und auf dem sich das Abenteuer von Jim Hawkins und seiner ominösen Schatzsuche ereignet. Der Kontrabass ist Destille („The Admiral Benbow Inn“), Schiff (der Segler „Hispaniola“) und einsame Insel zugleich. Glaubhaft! Ich höre das Meer rauschen und die Piraten johlen. Außer John Silver mit Ohne-Bein erkenne ich keines der Besatzungsmitglieder. Mein Begleiter bemerkt die Lücken und erklärt: Das sei doch Käpt’n Smollet und dort Mary und das sei Pirat Hunter. Er erzählt die Geschichte minutiös. Robert Louis Stevenson, fotografisch anwesend, registriert wohlwollend unser Interesse.
Der Hamburger Hafenschlepper „Krautsand“, ein raumgreifender Prachtkahn, von Kapitän Horatio Lüttich gesteuert. Er und seine Leute bringen, artenbewusst, ein Dronte-Küken (ausgestorbener, flugunfähiger Vogel) auf seine Ur-Insel Mauritius zurück. Das ungewöhnlich große, gefleckte Dronte-Küken-Ei mit schlupfbereitem Inhalt liegt an Bord. (nach Peter Schössows „Baby Dronte“) – Vergnügen, Erbauung, Erstaunen rundum.
La Fontaines „Grille“ fiedelt und zirpt sommerlang in einem Geigenkasten, aufmerksames Publikum um sich geschart: Schnecke und Frosch, Käfer und das fleißige Ameisenvolk. Moralischer Ausklang: Zirpen und arbeiten – alles hat seine Zeit! – Das Tierreich ist ohnehin im „Homunkulus“ zahlreich vertreten, ob als Hauptdarsteller oder als Statisten.
Auf der seriösen Faustbühne warten die Figuren der Ersten Weltrangklassiker-Liste auf ihr Stichwort. Vitzliputzli, der närrische Geist aus altem faustischem Puppenspiel tritt auf. Der Doktor selbst, ewig suchend, ewig schauend; Mephisto in flammendem Rot; Margarete, die einfache, edle Seele, und die Verführung in Gestalt – Helena. Auch der herrlich-dümmliche „Kasper-Wagner“ spielt mit. Auf der Unterbühne, in Auerbachskeller, zechen „die lustigen Gesellen“. Dann schließt sich der kostbare rot-goldene Vorhang über der Szenerie. – Die Figuren, kleine wie große, sind Kunstwerke. Von der Entenschar aus H. Chr. Andersens Märchen vom hässlichen Entlein bis hin zum lebensechten Joachim Ringelnatz (ich dachte zuerst, er sei es leibhaftig).
Wiebke Volksdorf, Direktorin der „Seebühne“, künstlerische und technische Mitarbeiterin, guter Geist im Hintergrund; Karl Huck, guter Geist im Vordergrund und all den engagierten und / oder begeisterten Mithelfer (innen) gelang es, diesen Hort der Fantasie, der „Ideen und besseren Gedanken“ einzurichten. Bewundernswert. Besuchenswert.